Was wissen wir wirklich über den Zusammenhang zwischen Gewicht und Gesundheit?
Hier geht es darum, zwei Ideen rund um das Thema Gesundheit in Frage zu stellen, die immer wieder verwendet werden, um die Diskriminierung dicker Menschen zu rechtfertigen.
Beide Ideen erschweren es außerdem vielen Menschen, ihren Körper so zu akzeptieren wie er ist - mit dem Gewicht, was er eben gerade hat.
Die erste Idee: Wir können mit unserem Verhalten stark beeinflussen, ob wir gesund sind / bleiben oder nicht.
Die zweite Idee: Dicksein ist ungesund Dünnsein ist gesund.
Beide Ideen schaue ich mir in diesem Artikel genauer an.
Ein Spoiler: Es stellt sich heraus, dass das, was wir im Alltag über Gesundheit und Gewicht wissen, gar nicht so klar ist wie oft getan wird.
Idee Nr. 1: Wir können mit unserem Verhalten unsere Gesundheit stark beeinflussen
Es wird oft so getan als könnten wir über unser Verhalten unsere Gesundheit kontrollieren. Also indem wir z.B.:
ein bestimmtes Gewicht erreichen durch Abnehmen
das „Richtige“ essen
viel Sport machen
positiv denken und möglichst wenig Stress haben
genügend und „richtig“ schlafen
und so weiter
Hinter dieser Idee von Kontrolle über unsere Gesundheit steckt eine Ideologie namens Healthism (mehr dazu im vorherigen Blogartikel).
Die zentralen Ideen von Healthism lassen sich so auf den Punkt bringen:
die einzelne Person wird als verantwortlich für ihre eigene Gesundheit gesehen
es wird erwartet, dass jede*r alles mögliche dafür tut, gesund zu sein
Diese Ideen sind uns vertraut und viele von uns leben danach.
Aber: Diese Ideen sind nicht wahr.
Denn wir haben gar nicht so viel Kontrolle über unsere Gesundheit.
Ja, unser Verhalten spielt eine Rolle, aber unsere Genetik, gesellschaftliche Faktoren und unsere Umwelt haben einen viel größeren Einfluß.
Gesellschaftliche Faktoren bedeutet z.B.:
Armut
Diskriminierung
Zugang zu guter Gesundheitsversorgung
Trauma
Umweltfaktoren bedeutet z.B.:
Luftverschmutzung
Folgen von Klimawandel
Es gibt unterschiedliche Angaben dazu, wie viel Einfluss wir mit unserem Verhalten auf unsere Gesundheit haben.
Gemeinsam haben diese Angaben aber, dass der Einfluss, den Faktoren wie Ernährung und Bewegung auf die Gesundheit haben, viel geringer ist als im Alltag von den meisten Menschen angenommen wird.
Hier mal ein Zitat mit konkreten Zahlen:
„Forschende haben herausgefunden, dass Ernährung und körperliche Aktivität zusammen nur etwa 10 Prozent der Gesundheit einer Bevölkerung ausmachen. Andere gesundheitsfördernde Verhaltensweisen, die wir individuell beeinflussen können, machen weitere 20 Prozent aus.
(Quelle: Gesundheit kennt kein Gewicht (2022) - die Autorinnen beziehen sich auf zwei Studien aus den USA - die Links findest du unter dem Artikel)
Wenn du dich jetzt fragst, was mit „andere gesundheitsfördernde Verhaltensweisen“ gemeint ist: Die zitierte Studie schaute neben Ernährung und Bewegung auf folgende Faktoren:
Tabakkonsum
Alkoholkonsum
Geschlechtskrankheiten und Teenagerschwangerschaften
Die Gesundheit einer Bevölkerung wird also zu 70% von Faktoren bestimmt, die einzelne Menschen gar nicht beeinflussen können.
Trotzdem wird so getan als könnten Menschen ihre Gesundheit kontrollieren.
Und: Menschen, die - vermeintlich - unverantwortlich mit ihrer Gesundheit umgehen, werden ausgegrenzt.
Idee 2: Dicksein ist ungesund Dünnsein ist gesund
Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Gewicht ist vermeintlich völlig klar: Dünn sein ist gesund und dick sein ist ungesund.
Wenn wir uns aber anschauen, was es wirklich an Wissen dazu gibt, dann wird es schnell unklarer.
Bevor ich ein paar Einblicke in die Forschung gebe, ist mir aber das hier wichtig:
Es geht mir nicht darum zu beweisen, dass dicke Menschen auch gesund sein können bzw. genauso gesund sein können wie dünne Menschen.
Denn das würde bedeuten, weiterhin in der Logik von Healthism / Healthismus zu verbleiben, wo der Wert eines Menschen danach beurteilt wird, wie gesund er*sie ist und wie sehr er*sie sich dafür anstrengt, gesund zu sein.
Aber:
Ob wir gesund sind oder nicht, hat nichts mit unserem Wert als Mensch zu tun.
Selbst wenn die Vorurteile wahr wären und alle dicken Menschen ungesund leben und früher sterben würden, änderte das nichts daran, dass dicken Menschen die gleichen Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten zustehen wie anderen Menschen.
Niemand muss sich Menschenrechte verdienen und nichts rechtfertigt Diskriminierung.
Aber was zeigt uns nun die Forschung?
Immer wieder erscheinen Berichte, in denen es zum Beispiel darum geht, dass ein hohes Körpergewicht schlecht ist für´s Herz oder dass ein hohes Gewicht ein Risikofaktor ist für bestimmte Krankheiten.
Ich nenne jetzt hier keine Beispiele, weil die Überschriften oft verletzende Sprache enthalten, aber wenn du selbst schauen möchtest, kannst du zum Beispiel online mit den Begriffen „hohes Gewicht Gesundheit“ suchen.
Diese Berichte erscheinen oft dann, wenn eine neue Studie veröffentlicht wurde - und es entsteht der Eindruck als gäbe es unzählige Studien, die ganz klar beweisen, dass dick sein ungesund ist.
Aber: Diesen klaren Beweis gibt es nicht.
Denn diese Studien zeigen nur eine Korrelation, aber keine Kausalität.
Kausalität bedeutet eine „eindeutige Ursache Wirkungs-Beziehung“ - also A verursacht B.
Aber das zeigen die Studien, die immer wieder zu hohem Körpergewicht angeführt werden, nicht. Sie zeigen maximal, dass ein hohes Körpergewicht irgendwie in Beziehung zu - zum Beispiel - Herzproblemen auftritt. Aber was das genau heißt, wissen wir nicht.
Könnten die häufigeren Herzprobleme auch eine Folge von vielen Diäten sein, die die meisten dicken Menschen in ihrem Leben machen? Ja.
Könnten die häufigeren Herzprobleme auch eine Folge von dem Stress sein, der durch ständige Diskriminierung entsteht? Ja.
Festzuhalten ist an dieser Stelle: Wir kennen den Zusammenhang nicht - und trotzdem wird ständig so getan als wäre er total klar.
Was hingegen klarer wird aus der Forschung:
Es ist nicht möglich, vom Gewicht einer Person auf ihre Gesundheit zu schließen.
Petra Schleifer und Antonie Post schreiben dazu in ihrem Buch „Gesundheit kennt kein Gewicht“:
“Wer behauptet, dass ein hohes Körpergewicht bestimmte Krankheiten verursacht, ignoriert hunderte Studien, die zeigen, dass wir anhand des Körpergewichts keine verlässliche und konkrete Aussage über die körperliche oder geistige Gesundheit oder das mentale Wohlbefinden einer Person machen können.” (S. 45)
Spannend ist übrigens auch, dass es auch Studien gibt, die sogar positive Zusammenhänge zwischen höherem Körpergewicht und Gesundheit herstellen - die werden aber seltsamerweise viel weniger zitiert.
(In der unten aufgeführten Podcastfolge von Maintenance Phase werden Beispiele genannt).
Der Blick auf die Forschung zeigt, dass es sich bei „dick sein ist ungesund“ und „dünn sein ist gesund“ nicht um gesichertes Wissen handelt - und trotzdem denken wir alle, das sicher zu wissen.
Wie kommt das?
Forschung und Vorurteile
Forschung und Berichte über Forschung werden genauso von Vorurteilen beeinflusst wie alle anderen Lebensbereiche.
Das bedeutet, dass Vorurteile, die wir alle von klein auf lernen - wie z.B. „dick sein ist ungesund“ - auch in Forschung einfließen.
Zum Beispiel:
In die Art, wie Fragestellungen in Studien formuliert werden,
welche Daten erhoben und
wie diese Daten interpretiert werden.
Vorurteile spielen auch eine Rolle dabei, welche veröffentlichten Studien dann Aufmerksamkeit finden und in Presseberichten aufgegriffen werden.
Nicht nur beeinflussen Vorurteile heutige Forschung, sondern das Vorurteil, dass dicke Menschen ungesund sind, existierte schon lange bevor es - vermeintlich - in Studien „bewiesen“ wurde.
Im Podcast „Maintenance Phase“ wird in einer Folge erwähnt, dass z.B. schon im 17. Jahrhundert Erzählungen von einer „Adipositas Epidemie“ auftauchen, die heute wieder oder immer noch existieren.
Hier gibt es eine Parallele zum Thema Rassismus, wo es rassistische Vorurteile schon gab und Wissenschaft dann genutzt wurde, um diese zu „beweisen“.
Tupoka Ogette bringt es in ihrem Buch „exit Racism“ auf den Punkt, wenn sie schreibt:
„Gesellschaftliche Zustände und die ideologische Untermauerung derselben laufen nicht parallel ab. Das eine folgt dem anderen.“
(Quelle: exit Racism (202: S. 35)
Fazit
In diesem Artikel ging es um zwei Ideen, die immer wieder angeführt werden, wenn es darum geht, dass Menschen:
aufgrund ihres Körpergewichts ungesund sind,
unverantwortlich mit ihrer Gesundheit umgehen,
abnehmen sollten,
sich anders ernähren und mehr bewegen sollten.
Beim genaueren Hinschauen stellt sich aber heraus, dass diese Ideen eine Menge Vorurteile enthalten und gar nicht wissenschaftlich bewiesen sind.
Trotzdem gehören sie zum „Alltagswissen“ der meisten Menschen und beeinflussen wie wir verschiedene Körperformen und Verhaltensweisen beurteilen. Und wie wir auf unseren eigenen Körper schauen.
Diese Ideen haben eine Menge problematische Auswirkungen. Eine davon:
Sie stellen eine Hürde dar für Menschen, die freundlicher mit ihrem Körper umgehen und ihn akzeptieren wollen - mit dem Gewicht, was er jetzt hat und zukünftig haben wird.
Wenn wir ehrlich über den Zusammenhang zwischen Körpergewicht und Gesundheit sprechen wollen, sollten wir mehr auf die Auswirkungen dieser Faktoren schauen:
Diäten,
Diskriminierung und
verinnerlichte Fettfeindlichkeit
In weiteren Blogartikeln kannst du mehr dazu lesen.
Zum Weiterlesen und - hören
Schleifer, Petra & Dr. Post, Antonie (2022): Gesundheit kennt kein Gewicht.
Studie von Hood et al (2016) (Studie aus USA) https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0749379715005140
Studie von Park et al (2015)
https://www.countyhealthrankings.org/sites/default/files/Park_AmJPrevMed_2015.pdf
Podcastfolge Maintenance Phase
https://maintenancephase.buzzsprout.com/1411126/episodes/9551555-is-being-fat-bad-for-you
Ogette, Tupoka (2020): Exit racism.