Healthism - sind wir für unsere Gesundheit selbst verantwortlich?

Wenn es um Körper und Gewicht geht, taucht sehr schnell das Thema Gesundheit auf.

Da geht es dann schnell darum, dass dicken Menschen zugeschrieben wird, ungesund zu sein und dass sie unverantwortlich mit ihrer Gesundheit umgehen.

Oder Gewichtsverlust bzw. das Anstreben von Gewichtsverlust wird damit begründet, gesünder sein zu wollen.

Oder Menschen, die sich für Fat Liberation, Body positivity oder Körperakzeptanz einsetzen, wird vorgeworfen, dass das unverantwortlich wäre, weil sie damit Menschen zu einer ungesunden Lebensweise animieren würden.

Deswegen: Lass uns mal genauer auf das Thema Gesundheit schauen.

In diesem Blogartikel werde ich mich mit einem Phänomen namens Healthism oder Healthismus beschäftigen.

Es wird darum gehen, welche Ideen dahinterstecken und was daran so problematisch ist.

In einem weiteren Blogartikel werde ich darauf eingehen, was wir tatsächlich über den Zusammenhang von Gewicht und Gesundheit wissen.

Denn: Es gibt die dominante Erzählung, dass Dicksein ungesund ist und Dünnsein gesund ist. Dies ist ein großer Teil dessen, warum Dicksein grundsätzlich als schlecht angesehen wird.

Wenn wir jedoch die Forschung und Zahlen betrachten, ist das Bild gar nicht so klar. Dazu aber mehr im nächsten Blogbeitrag.

Healthism

Genauso wie es eine große gesellschaftliche Erzählung zum Thema Körper und Gewicht gibt, gibt es auch eine dominante Erzählung zum Thema Gesundheit.

Diese Erzählung, also wie wir gesellschaftlich über Gesundheit nachdenken, macht es auf einer individuellen Ebene für viele Menschen schwer ihren Körper so zu akzeptieren wie er ist.

Auf einer gesellschaftlichen Ebene führt dieses Denken dazu, dass Menschen mit bestimmten Körpern ausgegrenzt werden und weniger Rechte haben.

Die dominante Erzählung hindert uns zudem daran, gesellschaftliche Ursachen für Gesundheitsprobleme anzugehen.

Woher kommt der Begriff „Healthism“?

Der Begriff „Healthism“ wurde 1980 von Robert Crawford geprägt, der sich Verhalten rund um das Thema Gesundheit in den USA angeschaut hat.

Für ihn steht Gesundheit in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Themen wie z.B. Rassismus und Armut - er beobachtete aber, dass Gesundheit immer mehr als individuelle Verantwortung angesehen wurde.

Ein weiterer wichtiger Name ist Petr Skrabanek, der Anfang der 90er Jahre in Großbritannien lebte und sich kritisch mit staatlichen Gesundheitskampagnen auseinandersetzte.

In Großbritannien gab es damals eine Kampagne, in der es um die „Gesundheit der Nation“ ging, die aber gesellschaftliche Faktoren - wie z.B. soziale Ungleichheit - ignorierte. Vor diesem Hintergrund beschrieb

Skrabanek wie Gesundheit immer mehr zu einer staatlichen Ideologie wurde.

Auch wenn der Begriff „Healthism“ erst 1980 geprägt wurde, reichen manche Ideen, die dahinter stecken, schon länger zurück - sie tauchen auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf.

Was ist Healthism?

Hinter Healthism - oder eingedeutscht: Healthismus - stecken bestimmte Ideen über Gesundheit:

  • die einzelne Person wird als verantwortlich für ihre eigene Gesundheit gesehen

  • es wird erwartet, dass jede*r alles mögliche dafür tut, gesund zu sein

Dies hat zur Folge, dass der Wert von Mensch danach beurteilt wird wie gesund sie sind und was sie dafür tun, gesund zu sein bzw. gesünder zu werden.

Mit der Verschiebung von Verantwortung für Gesundheit auf das Individuum werden gesellschaftliche Zusammenhänge und externe Faktoren für Gesundheit völlig ausgeblendet, z.B. die Folgen von

  • Armut

  • Diskriminierung

  • Trauma

  • Luftverschmutzung

Was ebenfalls völlig ignoriert wird: Genetik.

Stattdessen gibt es die Idee von kompletter Kontrolle über die eigene Gesundheit und die Idee, dass Gesundheit von Leistung abhängt.

Friedrich Schorb bringt das in seinem in seinem Buch „Healthismus“ (2024) auf den Punkt, wenn er schreibt:

„Healthismus basiert auf der Überzeugung, dass der eigene Körper beliebig formbar ist, dass Gesundheit eine Frage des Verhaltens ist, und dass chronische Erkrankungen Folge einer falschen Lebensweise sind. Wer seine Risikofaktoren kennt, sich richtig ernährt, nicht raucht, nicht trinkt, sich genug bewegt, weder zu viel noch zu wenig schläft, Schadstoffe und Stressfaktoren jeglicher Art vermeidet, der oder die bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall oder Krebs. Wer dennoch krank wird, muss also etwas falsch gemacht haben.“ (Schorb 2024: 18f.)

Was ist das Problem an Healthism?

Vielleicht denkst du jetzt erst einmal:

Na ja, aber gesund sein ist ja auch besser als krank sein.

Grundsätzlich würde ich dem erst einmal zustimmen: Ja, ich fühle mich besser, wenn ich gesund bin.

Aber das ist nicht die Ebene über die wir hier sprechen: Es geht also nicht darum, was sich für die einzelne Person besser anfühlt.

Es geht bei der kritischen Betrachtung von Healthism / Healthismus darum, wie wir gesellschaftlich auf Gesundheit und Krankheit schauen und auf die problematischen Auswirkungen, die das hat.

Die Ideen hinter und die Auswirkungen von Healthismus sind aus mehreren Gründen problematisch:

Grund 1

Wir haben gar nicht so viel Kontrolle über unsere Gesundheit. Ich gehe darauf genauer ein einem anderen Blogartikel.

Aber grob gesagt: Genetik und gesellschaftliche Faktoren spielen eine viel größere Rolle als unser Verhalten.

Grund 2:

Wenn die Idee ist, dass Menschen selbst verantwortlich sind für ihre Gesundheit und Kontrolle über ihre Gesundheit haben, dann wird krank sein gesellschaftlich negativ bewertet.

Denn: Wenn jemand krank ist und vor allem, wenn jemand länger krank ist und / oder schwer erkrankt ist, dann beutetet das ja - mit einer healthistischen Denkweise - dass diese Person etwas falsch gemacht hat.

Sie hat sich also nicht genug angestrengt, hat sich falsch verhalten oder ist vielleicht sogar unverantwortlich mit ihrer Gesundheit umgegangen.

Grund 3:

Diese Bewertung von krank sein führt dazu, dass bestimmte Menschen, bestimmte Gruppen stärker abgewertet und ausgegrenzt werden.

Eine dieser Gruppen sind dicke Menschen. In einem Text zum Thema „Healthism“ schreibt Nina Mackert dazu:

„Dicksein, gleichgesetzt mit Kranksein, scheint in dieser Lesart ein Problem – und die Unfähigkeit – des Individuums zu sein: das Resultat eines falschen Umgangs mit Gesundheitsrisiken, von falschen Entscheidungen und mangelnder Willenskraft. Dies ist ein zentrales Vehikel der moralischen Abwertung dicker Menschen und scheint Diskriminierung und Interventionen in ihre Körper und Lebensweisen zu rechtfertigen (…) Damit bedeutet healthism eine Gefahr für die Gesundheit dicker Menschen.“ (Mackert, 2022: 150)

Hier verbinden sich also verschiedene Ideen:

Die Vorurteile gegenüber Dicksein und dicken Menschen, nämlich dass dick sein ungesund ist und dass dicke Menschen faul und undiszipliniert sind, verbinden sich mit einer Sichtweise auf Gesundheit, in der Gesundheit als kontrollierbar angesehen und von Menschen erwartet wird, dass sie sich permanent anstrengen für ihre Gesundheit.

Aus dieser Sicht verhalten sich dicke Menschen unverantwortlich und leisten weniger als nicht-dicke Menschen.

Damit wird dann gerechtfertigt, dass dicke Menschen schlechter behandelt werden - sowohl in zwischenmenschlichen Begegnungen als auch auf gesellschaftlicher Ebene und von der Politik.

Ich gehe hier nicht weiter ins Detail, aber Healthism hat aber nicht nur negative Auswirkungen für dicke Menschen, sondern auch für andere Gruppen.

Zum Beispiel:

Für Menschen, die:

  • arm

  • chronisch krank

  • behindert

  • trans

  • Schwarz

sind

(Dicke Menschen können selbstverständlich auch Teil dieser genannten Gruppen sein - in diesem Fall verstärkt sich das Maß an Diskriminierung)

Grund 4, warum Healthismus problematisch ist:

Mit der Verlagerung von der Verantwortung auf das Individuum für die eigene Gesundheit geraten gesellschaftliche Bedingungen komplett aus dem Blick bzw. werden unsichtbar gemacht.

Dementsprechend gibt es dann auch keine politischen Maßnahmen, um z.B. Armut zu bekämpfen. Was ja eigentlich logisch wäre, wenn Staaten die Gesundheit ihrer Bürger*innen ernst nehmen würden. Denn Armut ist schädlich für die Gesundheit und senkt die Lebenserwartung deutlich.

Ein weiteres aktuelles Beispiel für den Mangel an politischen Maßnahmen zum Thema Gesundheit als eine Folge von Healthismus ist Covid 19 / Corona

Ja, in den ersten Jahren der Pandemie gab es politische Maßnahmen, um die Bevölkerung zu schützen.

Aktuell sind wir aber seit mehreren Jahren in einer Situation, in der die Pandemie nicht vorbei ist, das Virus also weiter existiert und in Umlauf ist, wo die Krankenstände hoch sind und es hunderte Studien gibt, die zeigen, welche Spätschäden durch Corona-Infektionen verursacht werden.

Außerdem gibt es alleine in Deutschland hunderttausende Menschen, die an Long Covid erkrankt sind und für die es keine ausreichende Versorgung gibt.

Um damit umzugehen, bräuchte es politische Lösungen.

Für den Bereich Infektionsschutz könnte das zum Beispiel bedeuten:

  • gesetzliche Vorgaben für bessere Belüftung von Innenräumen zu erarbeiten

  • Förderprogramme zu schaffen für notwendige Umbauten für bessere Belüftung

  • mehr Aufklärung über die Risiken von Covid 19

  • mehr und besser Impfkampagnen

  • besserer Zugang zu Impfungen

  • in bestimmten Phasen Maskenpflicht im ÖPNV

Stattdessen wird erwartet, dass Menschen sich eigenverantwortlich schützen.

Aber: Genauso wenig wie einzelne Personen Armut abschaffen können, lässt sich eine Pandemie lässt auf der individuellen Ebene lösen.

Dafür braucht es politische Lösungen.

Was kannst du tun?

Wie so viele große Erzählungen oder auch Ideologien durchzieht Healthismus unseren Alltag.

Die Ideen dahinter zeigen sich in kleinen Alltagssituationen - z.B. dann wenn Menschen sich schuldig fühlen, weil sie - vermeintlich - etwas ungesundes essen oder - vermeintlich - nicht genug Sport machen, etc.

Falls die Ideen aus diesem Text für dich neu sind und du genauer hinschauen möchtest:

Du könntest beobachten, wann und wie healthistisches Denken in deinem Alltag auftaucht: Dir selbst gegenüber aber auch darin, wie du auf andere Menschen schaust.

Und wenn du mehr über Healthism erfahren möchten: Du kannst mehr zu dem Thema lesen in den verlinkten Ressourcen.

Zum Weiterlesen:

Buch „Healthismus“ von Friedrich Schorb (2024): https://psychosozial-verlag.de/programm/2000/2550/3353-detail

Artikel von Nina Mackert zu „Healthism“ (2022) aus dem Buch „Fat Studies“: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6005-0/fat-studies/?number=978-3-8394-6005-4 (den Artikel findest du auf den Seiten 149 - 151)

Artikel von Aubrey Gordon „We Have to Stop Thinking of Being ‘Healthy’ as Being Morally Better“ (2020): https://www.self.com/story/healthism

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