Körperakzeptanz als (lebenslanger) Prozess
Im Blogartikel „Auf dem Weg zur Körperakzeptanz: Meine zwei Aha-Momente, die alles veränderten“ habe ich über zwei Schlüsselmomente geschrieben, die mir geholfen haben, meinen Körper zu akzeptieren.
Ich hatte dort auch erwähnt, dass Körperakzeptanz ein Prozess ist - in dem auch mal Unsicherheiten und Zweifel auftreten. Darum soll es hier gehen.
Es wird um 3 Beispiele aus meinem Leben gehen, was diese Erfahrungen für den Prozess der Körperakzeptanz bedeuten und am Ende biete ich dir ein paar Fragen an, wenn du selbst über deinen eigenen Prozess nachdenken möchtest.
Ich könnte es ja doch noch mal versuchen!?
Nachdem ich mich mit Mitte 20 entschieden hatte, keine Diäten mehr zu machen und nicht mehr zu versuchen, dünn(er) zu werden, gab es in den in den letzten 20 Jahren trotzdem immer wieder Momente, in denen der Gedanke aufblitzte, dass ich ja doch noch mal versuchen könnte, abzunehmen.
Hier sind 3 Beispiele von solchen Momenten und wie ich damit umgegangen bin:
Beispiel Nr. 1:
Wenn ich versucht habe, in Geschäften Kleidung zu kaufen und sah, wie viel spannende Auswahl es in den Größen gab, in die ich nicht reinpasse.
Das ist eine Situation, die ich zwischen Mitte 20 und Anfang 30 immer mal wieder erlebt habe.
Ich verbinde diese Erlebnisse vor allem mit H&M. Nicht weil diese Kette so extrem großartige Mode hat, sondern weil das damals einer von wenigen Läden war, wo ich überhaupt etwas in meiner Größe bekam - die Alternative war C&A.
Bei H&M gab es damals in den meisten Geschäften eine kleine Ecke mit Kleidung in großen Größen - die Kleidung die dort hing, sah meistens langweilig aus, war nicht so toll geschnitten und bestand, gefühlt, oft aus Plastik.
Um diese kleine Ecke drumherum gab es ganz viel andere Kleidung - mit schöneren Farben und viel aufregender geschnitten. Aber leider nicht in meiner Größe.
In diesen Momenten kam dann immer mal wieder der Gedanke, dass ich abnehmen werde, um in diese schönere, aufregendere Kleidung zu passen.
Was mir geholfen hat:
Mir immer wieder klar zu machen, dass nicht mein Körper falsch ist, sondern dass die Modeindustrie es ist.
Und dass ich nicht meinen Körper verändern werde, um in kaputte Strukturen reinzupassen.
Diese Situationen sind für mich fast komplett verschwunden, seitdem ich meine Kleidung komplett online kaufe:
Ich glaube, es hilft, dass ich Online Shops mit mehr und besserer Auswahl gefunden habe und mir dort direkt nur noch Sachen anschaue, die es in meiner Größe gibt.
Aus heutiger Sicht denke ich:
Klar, dass das keine gute Erfahrung war: An einem Ort zu sein, der Begehrlichkeiten weckt - und dann nichts davon haben zu können.
Dick zu sein bedeutet, weniger Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten zu haben - in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen. Dort wurde das eben sehr greifbar.
Beispiel Nr. 2:
Mit Anfang 30, Monate vor einer Sommerakademie, die ich geleitet habe:
Zur Erklärung:
Zwischen 29 und 33 habe ich mehrmals eine Sommerakademie geleitet, wo über 100 Schüler*innen und ein Team von ca. 15 Erwachsenen waren.
Als Leitung war es u.a. mein Job jeden Tag vor der gesamten Gruppe zu stehen und Infos weiterzugeben.
Ich war also als Leitung sehr sichtbar.
Als dicke Frau in neue Räume zu kommen, bedeutet, direkt sehr sichtbar, sehr auffällig zu sein und sofort beurteilt zu werden aufgrund meines Körpers (z.B. als weniger kompetent).
Die Sommerakademier war ein sehr großer Raum, in dem sehr viele Menschen waren, die mich sehen und beurteilen würden.
Monate vor der einer dieser Sommerakademien war dann eben wieder ganz stark dieser Gedanke da, dass ich dünner sein will zum Start der Akademie.
Was mir damals geholfen hat:
Zu verstehen, dass es gar nicht wirklich darum ging, dünn sein zu wollen.
Sondern um den Wunsch, nicht aufgrund meines Körpers abgewertet zu werden in einer Situation, die mich sowieso schon nervös gemacht hat.
Aus heutiger Sicht würde ich außerdem hinzufügen:
Es ging auch um mein Bedürfnis nach mehr Kontrolle.
Im Coaching arbeite ich öfter mit dem Modell der psychologischen Grundbedürfnisse - die grobe Idee dahinter ist, wenn eines der 4 Grundbedürfnisse nicht oder nur wenig erfüllt ist, geht es Menschen nicht gut.
Eines dieser Grundbedürfnisse ist das Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung.
In meinem Leben war mit Anfang 30 vieles in der Schwebe und aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass mein Bedürfnis nach Kontrolle und Orientierung in dieser Lebensphase sehr wenig erfüllt war.
Der Wunsch, abzunehmen war also eher ein Wunsch, etwas kontrollieren zu können:
Mein Gewicht und den ersten Eindruck, den andere Menschen von mir haben würden.
Ich hätte das damals nicht mit den Worten beschreiben können wie heute, aber ich habe auch damals schon gemerkt, dass es eigentlich nicht um mein Gewicht geht - und habe deshalb dann letztendlich nicht versucht, abzunehmen.
Beispiel Nr. 3:
Als ich im Sommer 2020 festgestellt habe, dass ich innerhalb kurzer Zeit mehrere Kilo zugenommen hatte und einige Kleidungsstücke nicht mehr gut passten.
In dieser Situation fühlte sich Abnehmen im ersten Moment wie eine vermeintlich einfache Lösung an - weil sie mir ersparen würde, eine Kleidergröße höher zu wandern.
Was mir damals geholfen hat:
Zu akzeptieren, dass mich mein Körper vorher in einer sehr herausfordernden Zeit - nämlich in den ersten Monaten einer Pandemie - am Leben erhalten hat und in dieser Krisenzeit eben ein paar Kilo schwerer geworden ist.
Es war für mich zudem hilfreich, mir meine Gefühle genauer anzuschauen:
Das Unwohlsein und die Scham, die auftauchten bei dem Gedanken, dass ich nun noch eine größere Kleidergröße brauche.
Ich konnte mir - nach und nach - klar machen, dass hier vor allem meine verinnerlichte Fettfeindlichkeit eine Rolle spielt. Und dass dicker werden an sich nichts schlimmes ist.
Etwas, was mir noch geholfen hat: Mich daran zu erinnern, wie ich mit meinem Körper umgehen möchte:
Ich möchte gut für ihn sorgen - unter anderem damit, dass ich Kleidung trage, in der ich mich wohl fühle und die bequem ist.
Wenn ich nun zukünftig meine Kleidung in einer größeren Größe kaufe, sorge ich dafür, dass es mir in meinem Körper weiterhin gut geht.
Was bedeutet das für das Thema Körperakzeptanz?
Die Beispiele zeigen:
Die bewusste Entscheidung, den eigenen Körper so zu akzeptieren wie er ist, ist nichts einmaliges, sondern ein Prozess.
Das bedeutet auch:
Es geht nicht kontinuierlich nach vorne, sondern mal geht 2 Schritte voran und dann auch wieder einen Schritt zurück.
Das ist völlig normal - für alle Entwicklungsprozesse.
Für den Entwicklungsprozess hin zu mehr Körperakzeptanz gibt es noch eine zusätzliche Herausforderung:
Nur weil ich mich entschieden habe, mit meinem Körper anders umzugehen heißt das ja nicht, dass der Rest der Welt sich geändert hat:
Körperakzeptanz bedeutet in einer Welt zu leben, die einem ständig sagt, dass man dünner, fitter, schöner, etc. sein sollte als man es ist - und sich diesen Botschaften gegenüber immer wieder abzugrenzen und es bewusst anders zu machen.
Es wäre seltsam, wenn das nicht anstrengend wäre und wenn das nicht dazu führen würde, dass Zweifel am eigenen Weg aufkommen.
Wie in den Beispielen beschrieben, hilft es mir, in solchen Momenten immer wieder genau hinzuschauen, was gerade bei mir los ist und warum dünn(er) sein gerade wieder so attraktiv wirkt.
Wenn ich das besser verstehe, dann versuche ich mich, um die darunter liegenden Gefühle, Bedürfnisse und Glaubenssätze zu kümmern.
Mir hilft es außerdem, mich immer wieder auf meine Werte zu besinnen und auf die Dinge, von denen ich überzeugt bin.
Fragen für deine Reflexion
Wenn du für dich über dieses Thema nachdenken möchtest, sind hier ein paar Fragen, die dich dabei unterstützen können:
In welchen Situationen ist bei dir in letzter Zeit, in den letzten Jahren der Wunsch aufgetaucht, abzunehmen und dünner zu werden?
Alternativ: In welchen Situationen ist bei dir in letzter Zeit, in den letzten Jahren der Wunsch aufgetaucht, deinen Körper zu verändern?
Was war zu dieser Zeit los in deinem Leben?
Wie ging es dir zu diesem Zeitpunkt?
Angenommen, hinter dem Wunsch abzunehmen / deinen Körper zu verändern, standen andere Bedürfnisse:
Welche Bedürfnisse könnten das sein?
Wie bist du mit diesen Bedürfnissen damals umgegangen?
Wie würdest du jetzt mit diesen Bedürfnissen umgehen, wenn du dich in einer ähnlichen Situation befändest?